Kolumne von Thomas Rausch

Wem nutzt die EZB-Politik wirklich?

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

der Aktionismus der EZB ist atemberaubend. Im Juni hieß es nach der Zinssenkung von 0,25 Prozent auf 0,15 Prozent, "wir haben praktisch die Zinsuntergrenze erreicht." Die Zinsen würden "für längere Zeit auf dem aktuellen Niveau bleiben". Drei Monate später senkt die EZB den Leitzins erneut, diesmal auf 0,05 Prozent. Wenn der Zins der Preis für das Geld ist, dann kostet Geld jetzt fast nichts mehr. Zumindest für die Banken nicht. Wie vernünftig geht man mit Geld um, das sich beliebig vermehren lässt und nichts kostet?

Außerdem wurde im Juni die "Dicke Bertha" (gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte" (TLTROs)) in einer Gesamtgröße von ca. 400 Mrd. Euro für September und Dezember angekündigt. Doch Draghi wartet nicht ab, welchen Einfluss diese Kredite an die Banken für die weitere Kreditvergabe an die Unternehmen haben werden. Er startet ein ABS-Programm, durch das die Banken ihre faulen Kredite gebündelt an die EZB verkaufen können. Diese Asset Backed Securities sollen ausdrücklich Unternehmenskredite oder Hypothekendarlehen enthalten können. Hypothekendarlehen? Hatte sich die Deutsche Bundesbank nicht dahingehend durchgesetzt, dass die EZB auf keinen Fall den Immobilienmarkt mit billigem Geld befeuern darf? Sind die LTROs nicht genau deshalb "zielgerichtet"?

Tatsächlich hat Jens Weidmann als einziges Ratsmitglied gegen das aktuelle EZB-Maßnahmenpaket gestimmt. Welche Art von Krediten werden die Banken aus ihren Portfolios verbannen wolle: Gute Kredite, die regelmäßig bedient werden, oder schlechte Kredite, die jeden Moment platzen können? Bisher hat die EZB die Anforderungen an die Sicherheiten, die die Banken für billiges Notenbankgeld leisten mussten, kontinuierlich abgesenkt. Es ist also mehr als wahrscheinlich, dass die EZB durch das ABS-Programm zur Bad Bank wird, für die alle Steuerzahler haften. Auch dagegen hatte sich die Deutsche Bundesbank entschieden ausgesprochen.

Warum diese Eile?

Es scheint also zwischen Juni und September in der Euro-Zone eine tiefgreifende Veränderung gegeben zu haben, die zu einer weiteren Eskalation der Notenbankinterventionen geführt hat: gegen den Willen der Deutschen Bundesbank und offenbar zur großen Verwirrung bei der Deutschen Bundesregierung. Welche Gründe könnten das sein?

An erster Stelle wird immer wieder die angebliche Deflationsgefahr genannt. Die offizielle Inflationsrate liegt für August bei 0,3 Prozent. 90 Prozent des Rückgangs bei den Preisen lässt sich allerdings mit den gesunkenen Energie- und Lebensmittelpreisen erklären. Darauf weist die EZB selbst hin! Rechnet man diese beiden Bereiche heraus, liegt die Kerninflationsrate im August bei 0,9 Prozent. Die Entwicklung bei den inflationsbereinigten Swaps zeigt, dass der Markt auch in fünf und zehn Jahren mit weiter steigenden Preisen rechnet. Von Deflation also keine Spur.

An erster Stelle wird immer wieder die angebliche Deflationsgefahr genannt. Die offizielle Inflationsrate liegt für August bei 0,3 Prozent. 90 Prozent des Rückgangs bei den Preisen lässt sich allerdings mit den gesunkenen Energie- und Lebensmittelpreisen erklären. Darauf weist die EZB selbst hin! Rechnet man diese beiden Bereiche heraus, liegt die Kerninflationsrate im August bei 0,9 Prozent. Die Entwicklung bei den inflationsbereinigten Swaps zeigt, dass der Markt auch in fünf und zehn Jahren mit weiter steigenden Preisen rechnet. Von Deflation also keine Spur.

Wer auch nur halbwegs verantwortungsvoll kalkuliert, wird in der Zinspolitik der EZB Ausdruck einer massiven Krise sehen und keine langfristigen Investitionschancen.

Wer aber profitiert von kurzfristigem Geld, das nichts kostet? Offenbar jene, die kurzfristige Geschäfte mit möglichst großem Kredithebel vornehmen. Also Zocker, die durch ihre Spekulationen die Preisgefüge bei den verschiedenen Assetklassen über Nacht aus dem Gleichgewicht bringen können. Wie soll man als Unternehmer kalkulieren, wenn sich die Preise nicht durch Angebot und Nachfrage, sondern plötzlich aus schierer Liquiditätsfülle und Anlagenotstand bewegen?

Der Banken-Stress-Test steht vor der Tür

Es geht der EZB vermutlich nicht primär um Deflation und um die Ankurbelung der Wirtschaft, sondern um die Herstellung von Vertrauen in das europäische Bankensystem. Das lässt sich nur durch einen echten Stresstest herstellen. Ende Oktober will die EZB die Ergebnisse ihres Stresstests veröffentlichen. Problembanken soll dann zwei Wochen Zeit erhalten, einen Plan für die Beseitigung von Kapitallöchern vorzulegen.

Einen solchen Plan hat die EZB jetzt selbst vorgelegt. Fehlt den Banken Kapital, wird es die Notenbank mit ihren Krediten zu fast 0 Prozent Zinsen zur Verfügung stellen. Gleichzeitig wird sie die faulen Kredite, für die die Banken erhöhtes Eigenkapital vorgehalten müssten, abkaufen. Und schon macht sich Vertrauen breit. Oder? Wenn Banken keine Risiken mehr kalkulieren, sind sie kein Bestandteil der Marktwirtschaft, sondern Erfüllungsgehilfen der Staaten, für die der Steuerzahler haftet.

Ist das eine zu pessimistische Einschätzung? Wird die Aushebelung der Marktkräfte vielleicht doch irgendwann zu einer Gesundung des Marktes führen?

Die EZB kann das nicht wirklich glauben, denn die empirische Erfahrung spricht dagegen. Durch ihre Geldpolitik hat sie die Zinsen für Staatsanleihen auf historische Tiefstände manipuliert und den Regierungen damit Zeit erkauft. Von der möglichen Inanspruchnahme des ESM ist längst keine Rede mehr. Aber haben die Krisenstaaten diese Zeit für Reformen genutzt? Draghi selbst wird nicht müde vor allem Italien und Frankreich zu mehr Reformen zu ermahnen. Aber warum sollten sie den steinigen Weg gehen, wenn die EZB ihnen einen einfachen Weg bereitet hat. Stattdessen erhöhen sie – mit Erfolg – den Druck auf die EZB, immer noch mehr für sie zu tun. Warum sollten die Banken anders agieren?

Fazit

Die Gefahr, dass die EZB viel zu viel getan hat, statt zu wenig, ist enorm groß. Zum einen gefährdet sie die Stabilität der Finanzmärkte und höhlt zentrale marktwirtschaftliche Prinzipien aus. Zum andern dürfte sie Deutschlands Kompromissbereitschaft bereits gefährlich weit herausgefordert haben. Alle Maßnahmen der EZB zielen letztlich auf eine Abwälzung der Risiken von Schuldnern auf die Schultern der Steuerzahler mehrerer Generationen. Ab wann übersteigen die wirtschaftlichen und politischen Risiken, die aus der Politik der EZB erwachsen, den Nutzen der Gemeinschaftswährung für Deutschland?