Kolumne von Thomas Rausch

Die Kanarienvögel in der Kohlemine

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

man riecht es nicht, man sieht es nicht, doch wenn das Grubengas in den dunklen und labyrinthischen Schächten der Kohleminen austritt, besteht akute Lebensgefahr. Deshalb hielten sich Bergleute Kanarienvögel in der Dunkelheit. Kippten die Vögel von der Stange, wurde die Mine sofort evakuiert.

Solchen Kanarienvögel gibt es auch in den undurchschaubaren Labyrinthen der Finanzmärkte und den Mikrostrukturen der Realwirtschaft: Die einen schauen z.B. auf den Spread zwischen den Zinsen für hochverzinslichen US-Unternehmensanleihen und zehnjährigen US-Staatsanleihen oder die Performance des Aktienmarktes. Laufen beide auseinander, könnte das für eine Kreditverknappung sprechen, die später wahrscheinlich auch Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Aktienmarkt hätte.

Andere wiederum schauen auf die Margin Debt, den Kauf von Aktion auf Kredit oder den VIX, das Angstbarometer für den S&P 500.

Aufschlussreich ist auch der Wolkenkratzer-Index. Die zugrundeliegende Theorie geht davon aus, dass die höchsten Gebäude jeweils im Übergang vom Boom zur Abschwungphase entstehen.

Sehr interessant ist aber auch der Zahnarzt-Indikator, von dem ich jetzt aus einem Bloomberg-Artikel zum ersten Mal erfahren habe. In den USA bietet Sikka Software verschiedene Softwarelösungen für insgesamt etwa 12.000 kleine und mittlere Zahnarztpraxen. Deshalb verfügt das Unternehmen über eine Vielzahl verschiedener Daten, die Rückschlüsse über das Verhalten der Partien zulassen.

Aus einem Datensatz geht z.B. die Häufigkeit hervor, mit der zuvor vereinbarte Nachfolgetermine tatsächlich eingehalten werden. In diesem Jahr haben auffallend viele Patienten ihre Termine abgesagt oder nicht eingehalten. Die aktuelle Ausfallrate liegt auf dem Niveau von 2007 bis 2009. Zahnarztbehandlungen sind teuer. Nimmt die Unsicherheit bei dem Menschen zu, sind sie geneigt, die teuren Behandlungen abzubrechen.

Das Gleich gilt für die routinemäßigen Zahnhygienetermine, obwohl sie in der Regel viel weniger kostenintensiv sind. Hier hat die Volatilität der Behandlungen bzw. Terminabsagen zugenommen bevor die Absagen schließlich in den letzten Monaten stark zugenommen haben. Vijay Sikka, der Gründer des Softwareunternehmens, schließt daraus, dass die Planungssicherheit der Haushalte vor allem in den letzten Monaten abgenommen hat.

Und schließlich habe das zurückhaltende Verhalten der Patienten Auswirkungen auf ihre Zahlungsmoral. Die Zahl der offenen Forderungen der Zahnärzte gegenüber ihren Patienten habe wieder das Niveau des Jahres 2008 erreicht.

Insgesamt könnten die mikroökonomischen Daten von Sikka Software auf eine zunehmende Schwäche der US-Wirtschaft hindeuten. So wie es aussieht, stehen die Kanarienvögel noch auf ihren Stangen. Aber sie flattern aufgeregt mit den Flügeln.

Ihr Thomas Rausch

Offenlegung gemäß §34b WpHG wegen möglicher Interessenkonflikte: Der Autor ist in den besprochenen Wertpapieren bzw. Basiswerten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Analyse nicht investiert.